Malerei
Kassel 1982

Montevideo 2004 – Taller Martin Verges









2004 hatte Matthias Kanka eine Einzelausstellung in Montevideo. Die gezeigten Werke umfassten Öltempera-Gemälde auf Pappe sowie Zeichnungen auf Glanzpapier, die spiegelbildlich entlang eines rechtwinkeligen Flurs im Bereich einer kleinen kunsthandwerklichen Galerie präsentiert wurden. Die Gemälde zeigen männliche und weibliche Figuren in unterschiedlichen Räumen und Haltungen: sie liegen auf einem Sofa, schlafen auf einem Stuhl, wandern am Strand oder stehen in einem geschlossenen Raum. Jede Figur ist mit ihrer entsprechenden zeichnerischen Version verbunden. Man kann diese Zeichnungen als Aktzeichnungen oder künstlerische Vorübung der Gemälde interpretieren, auch wenn die Körper darin ihre eigene, autonome Dynamik entfalten.
Die ausgestellten Kunstwerke entstanden im Rahmen mehrerer anatomischer Naturstudien sowie Modell-Sitzungen im Atelier von Martin Verges in Montevideo (Uruguay). Die Atmosphäre dort war spontan und entspannt, und die Modelle waren ganz normale Menschen von der Straße. Kanka verwendete eine ölhaltige, mit Ei gemischte Temperafarbe, um besonders schnell arbeiten zu können: die Gestalten der Körper sind spontan in 15 Minuten verwirklicht. Um mehrere leuchtende Reflexe der Malerei zu schenken, hat der Künstler die Farbe ausgewaschen, anschließend hat er sie mit einer Wachsschicht überdeckt, um den Figuren mehr Tiefenwirkung zu verleihen. Die intensiv farbigen Gemälde reflektierten die sonnige und positive Stimmung der Stadt Montevideo und die Unbesorgtheit des Künstlers während seines Aufenthalts in Uruguay.
Kankas Umgang mit Farben ist expressiv und emotional, er lässt Farben mit viel Wasser verlaufen, um hauchdünne, durchscheinende Schichten zu schaffen, die die Leinwand von innen heraus leuchten lassen. Matthias Kanka Werke verbinden die Geschichte der Malerei mit einer sehr persönlichen und zeitgenössischen Sensibilität: die Schnelligkeit der Linienführung, die intensiven, reinen Farben, die nicht die Realität abbilden, sondern Emotionen ausdrücken, reihen die Schauspieler*innen der Gemälde den Fauvismus von Matisse und André Derain an, aber auch an die Emotionalität und den kompromisslosen Realismus der Kunstwerke Marlene Dumas. Die Körper wirken in ihrer Gestaltung und Reduktion fast schon skulptural: sie verbinden traditionelle und klassische Elemente mit einer expressiven, zeitgenössischen Formensprache und erinnern an die zentralen Tendenzen der klassische Moderne sowie an die Sinnlichkeit der weißlichen, liegenden Akte Amedeo Modiglianis .
(C.L.)
ausgewählte Bilder

Kassel, Aue
1982
Acryl, 100 x 100
Das Gemälde ist ein Selbstporträt von Matthias Kanka ohne Spiegel. Der Künstler liegt mit einem Gänseblümchen im Mund auf einer grünen Wiese in der Nähe der Kunsthochschule in Kassel, an der er studiert hat. Es ist ein schöner, sonniger Sommertag mit einigen Wolken am Himmel. Der Künstler trägt eine Latzhose und Ledersandalen. Gegenüber ihm ist eine baumreiche, liebliche Landschaft zu sehen.
Bemerkenswert ist hier nicht nur die Ikonografie, sondern auch die Komposition des Gemäldes. Der Blickpunkt ist jener Punkt, von dem aus die Realität wahrgenommen wird. Das beobachtende Auge liegt im Zentrum der Komposition. Obwohl Leon Battista Alberti in seiner Publikation Trattato della pittura (1434) die Konstruktion der Perspektive durch einen einzigen Fluchtpunkt demonstriert hat, ist hier der Ursprung von den Blumen aus eine Alternative zum Fluchtpunkt. Aufschlussreich ist hier die Referenz des Künstlers auf Rudolf Arnheims Beitrag zur Psychologie des Sehens, die vor allem in seiner Anwendung der Gestaltpsychologie auf die Kunst zu finden ist, um zu erklären, wie die menschliche Wahrnehmung funktioniert. Arnheim argumentierte, dass die Wahrnehmung nicht nur eine passive Aufnahme ist, sondern ein aktiver Prozess, bei dem unser Gehirn Formen organisiert und interpretiert. Kanka entwickelt in dieser Komposition sein Interesse am Thema Perspektive und setzt sich dabei mit Leon Battista Albertis Erkenntnissen zur Perspektive auseinander. Der Künstler stellt sich selbst und die Betrachter*innen Fragen über die Komposition der Zeichnung und deren philosophische Bedeutung. Leon Battista Albertis zentrale Perspektive besagt, dass jedes Individuum für sich das Zentrum der Welt ist: Jedes „Ich“ ist das Zentrum, von dem aus die Welt gesehen wird. Wie aktuell ist diese individualistische und humanistische Interpretation der Welt in unserer zeitgenössischen Zeit?
Wie relevant ist dann aber die Kollektivität und die Beziehung zu und mit anderen Leuten? Individualismus versus Kollektivismus – die Frage nach der Natur des Miteinanders. Aus Kankas Sicht existiert nicht nur ein einzelnes beobachtendes Auge, sondern zahlreiche unterschiedliche Blickpunkte, die zu allen Menschen in unserer Welt gehören. So wie unser Kosmos chaotisch und vielgestaltig ist, sind auch die Perspektiven gleichwertig. Diese kollektivistische Konzeption von Komposition und Struktur fließt dann in Kankas zukünftige Theaterproduktionen, Bühnenprojekte und architektonische Arbeiten ein.
(C.L.)
